Mein Name ist Christopher
und ich werde in neun Jahren
geboren.
In meinen Kreisen nennt man
mich Niemand.
In eurer Zeit würde man mich
vielleicht als Gray Hat Hacker
bezeichnen.
Heute ist das wesentlich
komplizierter.
Heute?
Das ist das Jahr 2061.
Das Portal
Das Portal 61 ermöglicht Ihnen einen Zugang zu Nachrichten des Jahres 2061. Hier geht es nicht wie in Science-Fiction-Literatur um Aliens, Weltuntergänge oder Sternenkriege. Es geht auch nicht um Zukunftsforschung oder Astrologie. Nein, hier wird die reale Zukunft vorhergesagt. Die Ursache dafür ist:
Die Quelle der Informationen
Seit einiger Zeit erhalte ich ungewöhnliche Dateien. Wobei ungewöhnlich ein Adjektiv ist, das den Inhalt nicht annähernd angemessen beschreibt. Auch für den Weg, auf dem ich die Mitteilungen erhalte wäre das Wort ungewöhnlich … zu gewöhnlich. Dasselbe gilt für die Zeit, aus der die Nachrichten kommen. Doch bevor ich nun lange nach geeigneteren Adjektiven forsche, erzähle ich am besten:
Wie alles begann
Am Dienstag, den 23. August 2016 entdeckte ich auf einer sonst leeren externen Festplatte die Textdatei Zeitreise-1.txt, die mir bisher nicht aufgefallen war. Das Erstelldatum der Datei lautet „19.08.2061 00:19“. Wie diese Datei dort hinkam, konnte ich nicht nachvollziehen.

Screenshot: Datei Zeitreise-1.txt auf dem Festplattenlaufwerk
Ich öffnete sie und fand einen Text, eine Art Brief. Das Schreiben wurde angeblich von einem Hacker verfasst, der Christopher heißt und „Niemand“ genannt wird. Es wirkte auf mich wie ein Teil einer Science-Fiction-Story.
Daher suchte ich durch Eingabe von Ausschnitten aus dem Text im Internet nach einer Quelle. Doch auch nach intensiver Recherche fand ich keine Website, keinen Blog, kein Buch, keine Vorhersagen aus der Zukunftsforschung oder ähnliche Texte.
Ich bin eher der rationale Typ, glaube nur, was ich sehe und selbst das hinterfrage ich. Schließlich ging ich von einem Hoax aus und hatte auch gar keine Zeit, mich weiter damit zu beschäftigen. Ich war sicher:
Niemand kann die Zukunft vorhersagen
Doch der darauffolgenden Samstag, der 27. August, war der Tag, der alles änderte.
Erst am Abend checkte ich die Bundesliga-Ergebnisse und mein Blick fiel sofort auf den 6:0-Sieg des FC Bayern. Dieses Ergebnis … habe ich das nicht irgendwo … stand das nicht …?
Tatsächlich!
Mein Herz begann zu rasen. Hektisch und nervös suchte ich den Text, den ich am Dienstag entdeckt hatte. Die Zeit schien sich unendlich zu dehnen. Endlich. Ich fand die Datei und öffnete sie.
Beim Blick auf die im Brief vorhergesagten Ergebnisse und den Verlauf des Hertha-Spiels liefen Gänsehautschauer über meinen Körper, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Entsprechende Quoten sind bei Wetten auf exakte Ergebnisse hoch, erst recht wenn das Eintreffen nicht sehr wahrscheinlich ist.
Nur langsam begriff ich: „Niemand“ kann die Zukunft vorhersagen. Weil er in der Zukunft lebt. Zu spät, denn:
Ich hatte Christopher nicht vertraut
Es war ein sehr warmer Sommerabend. Und doch empfand ich einen Schüttelfrost wie bei meiner Grippe im letzten Jahr. Nein, besser vergleichbar ist es mit dem Zittern, das ich vor Jahren unmittelbar nach einem Autounfall verspürte. Der Arzt diagnostizierte damals einen Schock.
Ich fragte mich immer wieder:
Wie. Konnte. Das. Geschehen?
Just in diesem Moment, während ich die Geschehnisse niederschreibe, spüre ich es wieder. Die Gänsehaut. Das Zittern. Innerlich durchlebe ich die Situation erneut. Dabei war das nur der Beginn der unfassbaren Ereignisse.
Gespannt wartete ich nun auf Montag, den 5. September, denn für diesen Tag wurde die erste News angekündigt. Sicherheitshalber kopierte ich die Datei Zeitreise-1.txt auf mehrere andere Datenträger und formatierte die Festplatte. Dann installierte ich ein neues System auf einem alten Notebook. Das Notebook hat keinen Netzwerkanschluss, auch nicht per WLAN. Von diesem Rechner aus gab es also keine Verbindung zum Internet oder irgendeinem anderen Gerät.
An dieses Notebook schloss ich die externe Festplatte an und formatierte sie sicherheitshalber erneut. Weitere Sicherheitsmaßnahmen folgten. Jeder Schritt sollte zweifelsfrei ausschließen, dass Viren oder andere Malware auf dieses System gelangen konnten. Nachdem ich alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen hatte, war es so weit:
Die Nacht zu Montag brach an
Auf dem Monitor meines alten Notebooks war der leere Inhalt der externen Festplatte zu sehen. Ich zweifelte sehr, dass irgendetwas passieren würde. Und trotzdem ertappte ich mich dabei, wie ich ab Mitternacht immer wieder auf den Monitor schaute.
Auf das Buch, das ich parallel lesen wollte, konnte ich mich kaum konzentrieren. Wiederholt glaubte ich, aus den Augenwinkeln eine Veränderung wahrgenommen zu haben. Wiederholt irrte ich mich. Bis um 00:46 Uhr.
War da was?
Der Moment der Entfernungs- und Helligkeitsanpassung meiner Augen vom Buch auf den Monitor schien diesmal besonders lange zu dauern. Doch selbst als ich es sah, wollte ich meinen müden Augen nicht trauen:
Auf dem Monitor war eine Datei zu sehen
Auf dem eben noch leeren Laufwerk E hatte sich eine Textdatei gebildet. Zu sehen war die News-1.txt.
Das Erstelldatum lautet „05.09.2061 00:27“. Ich kopierte die Datei. Beim nachfolgenden Öffnen der Datei versuchte ich so behutsam vorzugehen, als könnte sie andernfalls sofort zu Staub zerfallen.
Ich verschlang die Nachricht. Wie oft ich sie gelesen habe, weiß ich nicht mehr. Mit jedem Lesen wurde mir bewusster: Ich hatte das Tor zur Zukunft aufgestoßen:
Das Portal zum Jahr 2061
Nun war ich auch überzeugt davon, dass die nächste Datei wie vom Absender geplant zwei Tage später erscheinen würde. Bis dahin sorgte ich Tag und Nacht dafür, dass niemand auf das Notebook oder die Festplatte zugreifen konnte.
Und tatsächlich: Die Datei News-2.txt erschien am Mittwoch, den 7. September, um 00:23 Uhr.
Aufgrund der interessanten Einblicke in die Trends der Zukunft unserer Welt habe ich mich dazu entschlossen, die News zu veröffentlichen. Eine physikalische Analyse, wie genau die Dateien entstehen, könnte wohl nur unter Laborbedingungen erfolgen. Ich möchte die Unversehrtheit der Festplatte aber unter keinen Umständen gefährden.
Vielleicht beweisen die Inhalte der News selbst einmal, dass sie die Zukunft vorhersagen, weil sie aus der Zukunft kommen. Durch unvorhersehbare Tatsachen, die sich nach Veröffentlichung bewahrheiten. So lange das aber nicht der Fall ist, wird man mir kaum glauben. Nach langer Überlegung sehe ich bis dahin nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Offiziell bin ich der Autor der News.
Die Originaltexte enthalten Wörter, deren Schreibweise etwas von der heutigen abweicht. Für eine bessere Lesbarkeit habe ich diese Wörter an die aktuelle Rechtschreibung angepasst.
Außerdem erwähnte Christopher aus der Zukunft in seinem Schreiben, dass er auch Bilder mitsenden würde. Hierbei gibt es jedoch offensichtlich Probleme. Bisher sind jedenfalls keine Bilddateien angekommen. Zur Auflockerung der Texte werde ich daher bis auf Weiteres geeignete Bilder von Bildagenturen verwenden. Diese sollen aber nicht von dem Bild ablenken, das wir uns mit Hilfe der News von der Zukunft machen können.
In der Welt von heute wünsche ich Ihnen nun eine unterhaltsame Reise durch die Welt von morgen.
Thomas Wuscher